Akademische Forschung und Praxis scheinen wieder mit zunehmender Lust und Energie Visionen der Zukunft „jenseits von Covid“ zu entwickeln. Zwei Themen gewinnen dabei besondere Dynamik: DEFI und das Metaverse.
Decentralized Finance, kurz DEFI, ist die Vision einer Finanzordnung, die organisatorisch auf verteilten Verantwortungen in dezentralen Organisationen beruht. Technische Basis sind verteilte Datenbanken ohne zentrale Steuerung, also dezentrale Ledger, meist auf einer Blockchain-Variante implementiert. DEFI nutzt also die Infrastruktur der dezentralen Ledger und setzt Anwendungslösungen in Form von Smart Contracts darauf, das heißt programmierte Verträge mit Finanz-Funktionen. Sind vordefinierte Bedingungen gegeben, so werden automatisch bestimmte Aktionen wie z.B. Zahlungen ausgelöst, der Vertrag wird „automatisch“ ausgeführt. Wer mehr darüber wissen möchte, dem sei der Artikel von Jürgen Moormann und Guido Perscheid in diesem Heft empfohlen.
DEFI ist eine im Ansatz faszinierende Perspektive. Streit und Unsicherheit könnten entfallen, Koordinationskosten sinken, Verträge vollziehen sich automatisch, schnell und günstig. Häufig wird von der „Demokratisierung“ der Verträge gesprochen, vom Ende der ungleichen Beziehungen zwischen mächtigen Plattformen wie Amazon und ihren schwachen Kunden, ja sogar vom „Ende der Monopol-Renten“. Aber das könnte auch eine Kehrseite haben.
Schauen wir uns am Beispiel von Amazon mögliche Probleme von DEFI an: Die Leistungen, die Amazon erbringt, sind beträchtlich. Allein die standardisierte und saubere Beschreibung von Millionen von Produkten, dann der einfache Kauf- und der sichere Zahlprozess, die erstaunlich präzise Lieferung, die AGBs mit einem balancierten Ausgleich von Händler- und Kundeninteressen, der Mediationsprozess bei Unzufriedenheit, das permanente Aussortieren der schwarzen Schafe. All das muss mit DEFI in „Selbstbedienung“ der Beteiligten erfolgen, ohne zentrale Instanz. Wer exakt wissen will, was in einem Vertrag passiert, sollte den Programmcode lesen können. Und wie viel in dezentralen Mediationsprozessen geregelt werden kann, ob Gerichte überhaupt Smart Contracts akzeptieren werden oder die Akteure im Regen stehen lassen, sind ungelöste Fragen. Also: Die Kosten werden nicht verschwinden, sie werden nur anders auf die Beteiligten verteilt, eben „demokratisiert“, dabei häufig versteckt. Ob die Gesamtkosten im System dabei sinken oder ansteigen, wird zu einem verdienstvollen Forschungsfeld werden.
Wenn wir bei attraktiven Forschungsfeldern sind, sei hier gleich das zweite genannt: das Metaverse. Der Begriff entwickelt sich in ähnlicher Dynamik wie DEFI und liegt nur auf den ersten Blick ferner von den Finanzen.
Eine erste Annäherung an das Metaverse liefern heute eher Romane als Fachartikel. Ich empfehle „Snow Crash“ von Neal Stephenson (Erstauflage bereits in 1993!) oder „QualityLand“ von Marc-Uwe Kling. Näher an die fachlichen Aspekte rückt Matthew Ball mit seinem Artikel vom Januar 2020: “The Metaverse: What it Is, Where to Find it, Who Will Build it, and Fortnite”. Das Metaverse beschreibt unser zukünftiges Leben, in dem sich nicht nur unterschiedliche, bisher getrennte virtuelle Welten vermischen, sondern in dem auch Realität und virtuelle Welten zunehmend verschwimmen.
Ein Beispiel soll es konkreter machen: Ich verlasse am Abend das Büro am Frankfurter Römer, bin frustriert wegen des Ärgers mit dem Kollegen Hans-Werner. Denn er war stur und wollte nicht, was ich wollte. Ein paar Meter rechts vor mir kommt Super-Mario in den Blick, auf einem Blumenkübel sitzend (wirklich? - oder nur in meiner Brille? – übrigens einem schicken Modell von Ray-Ban, viel funktionaler als das Head-up-Display in meinem Auto). Jedenfalls passiert mir das häufig, wenn ich frustriert bin, und gerne setze ich mich zu ihm. Super-Mario deutet auf den Eingang in seine „3D World“ und macht mich noch schnell zum Helden, indem er mir ein Muskelpack verkauft – ein Schnäppchen für fünf Euro, gezahlt aus meiner digitalen Wallet. Wie einfach es damit ist, ihm bei den tollsten Sprüngen zu folgen! Den Abzweig zu Second Life lasse ich links liegen, wende mich stattdessen nach drei weiteren Sprüngen rechts zu „Fortnite“ (für die Unwissenden: ein Survival-Spiel). Gut, dass ich immer noch der muskelbepackte Held bin, denn vor mir öffnet sich ein Boxring. Mittendrin Kollege Hans-Werner, dem ich gleich eins auf die Nase gebe – schon ist der Frust verflogen! Doch am Ende ist er stärker. Nach kurzem Blackout finde ich mich zurück auf dem Blumenkübel – nur Super-Mario ist verschwunden, und mein Muskelpack leider auch. Solche Rücksprünge passieren mir in der Regel, wenn es bei Fortnite nicht gut läuft. Was ich morgen im Büro dringend klären muss: Ist Hans-Werner böse wegen des Nasenstübers - soll ich ihm an Super-Marios Bar seinen geliebten Veggie Burger spendieren - oder ahnt er von all dem nichts? Wie auch immer, McDonalds hatte eine Vorahnung: Schon taucht ein virtueller Veggie-Burger in meiner Brille auf und macht mich hungrig. Mit „Hello-Mac“ bestelle und zahle ich (aus meiner digitalen Wallet natürlich), und keine sechs Minuten später steht ein realer Lieferando-Mitarbeiter vor mir und wünscht mir freundlich einen guten Appetit.
So oder ähnlich könnte es mit dem Metaverse funktionieren. Und wir sehen: Da braucht es auch Finanzen, und diese nicht zu knapp. Idealerweise sind das keine separaten Zahlungsmittel, sondern solche aus der gleichen digitalen Wallet wie der fürs reale Leben. Schon im altertümlichen Second Life untersuchten Banken, ob und wie sie dort Filialen etablieren könnten. Das wird nun deutlich wichtiger. Denn es wird nicht bei der Zahlung für Muskelpacks und Veggie Burger bleiben. Für größere Ausrüstungspakete kann eine „Buy Now Pay Later“-Zahlung oder gar eine Kreditfinanzierung hilfreich sein. Kluge Voraus-Sparer könnten auch an Geldanlagen denken. Geld scheint eines der stärksten Verbindungselemente zwischen den zusammenwachsenden Teil-Welten zu sein.
Und damit schließt sich der Kreis: Hier kommt DEFI als grundlegender Lösungsansatz wie gerufen – mit digitalem Geld, digitalen Kontrakten, digitaler Ausführung. Deshalb: In ihrer Anforderungsanalyse sollten die Designer von DEFI berücksichtigen, dass die Lösungen nahtlos für die virtuellen Welten taugen!
Alles, was hier beschrieben wurde, ist im Grundsatz heute technisch möglich – auch wenn es noch an Rechnerleistung und vor allem am nahtlosen Zusammenspiel zwischen den Welten mangelt. Aber in fünfzehn oder zwanzig Jahren? Es lohnt, darüber intensiver nachzudenken!
Diese Kolumne leitet die aktuelle Ausgabe der BIT ein, deren Schwerpunkt dann auf dem Einsatz der KI sowie auf digitalen Währungsformen liegt. Welche Themen das Heft sonst noch behandelt und wie Sie es bestellen können, lesen Sie hier.
Literaturquellen:
Ball, Matthew: The Metaverse: What it Is, Where to Find it, Who Will Build it, and Fortnite. www.matthewball.vc, 2020, abgerufen am 16. Sept. 2021
Kling, Marc-Uwe: QualityLand. Ullstein Taschenbuch. Schwarze. Helle Edition: 3. Auflage 2019; Dunkle Edition: 2. Auflage 2019
Moormann, Jürgen und Perscheid, Guido: Dezentrale Plattformen – Idee, Entwicklung, Perspektiven. BIT (Banking Information Technology), Heft 2, 2021, Okt. 2021
Stephenson, Neal: Snow Crash. Penguin Books, 1. Auflage 1993, Neuauflage 2011