Der Begriff „Finance
4.0“ ist bisher relativ diffus belegt. Unter Rückgriff auf die
Anforderungen der „Industrie 4.0“ lassen sich die Inhalte sowohl hinsichtlich
der Produkte als auch hinsichtlich der Bereitstellungsprozesse deutlich präzisieren.
Wer dieses Verständnis entwickelt hat, kann wesentlich fundierter über neue
Geschäftsmodelle nachdenken.
Erstens fordert Industrie
4.0 veränderte Finanzprodukte: Höherwertige Konsumgüter, aber auch industrielle
Anlagen werden zunehmend nutzungssynchron über „pay as you go“ bezahlt werden.
Die Sitzheizung oder die zusätzliche Motorleistung im Auto werden wir „auf
Knopfdruck“ abrufen und bezahlen können, wie Tesla dies bereits mit zuschaltbarer
Akkuleistung vormacht. Industriemaschinen werden nach Produktionszyklen bezahlt
werden können, so wie wir das schon für Industrie-Waschmaschinen kennen. Das
verlangt nach neuen, effizienten und sicheren Zahlverfahren, die von Maschinen
direkt ausgelöst werden.
Digitale Zwillinge der physischen Objekte liefern präzise
technische und kommerzielle Daten, die eine zielgenauere, deshalb auch günstigere
datenbasierte Finanzierung der Objekte ermöglichen können – und damit
veränderte Kreditstrukturen erlauben.
Solche Objekte könnten sogar in Portfolien zusammengefasst
und in „Maschinen-Fonds“ verbrieft werden. Das wäre EK-schonend für die Banken
und würde attraktive Finanzanlage-Alternativen schaffen: „ABS revisited“, aber mit
transparent kalkulierten Risiken in einem datenbasierten Geschäftsmodell!
Zweitens werden solche
Finanzprodukte zunehmend systematisch konstruiert, wie wir dies von
industriellen Gütern schon lange kennen. Am Anfang steht die konsequente, mit
Options-Stücklisten vergleichbare Standardisierung der Einzelleistungen. Das
schafft die Voraussetzung für Automatisierung und Modularisierung der erstellenden
Prozessketten, in der Prozess-Schritte über APIs verbunden werden. Das wiederum
erlaubt die Aufteilung der Wertschöpfungskette auf mehrere Akteure, mit reduzierter
Wertschöpfungstiefe beim Einzelnen. Der Regulator wandelt sich schrittweise vom
Bremser zum Förderer dieser Modularisierung. Denn die entstehende Transparenz reduziert
Risiken und kommt den Verbrauchern zugute. Die marktwirtschaftliche Konkurrenz
hält auf allen Stufen der Wertschöpfungskette Einzug. Es entstehen Ökosysteme, häufig
in Form von Plattformen, zum Beispiel in der Ausprägung als Marktplätze mit
konkurrierenden Angeboten.
Der Begriff „Finance 4.0“ lässt sich also durch zwei
Charakteristika präziser fassen: Erstens werden von der Industrie 4.0 verlangte,
deutlich veränderte Leistungen bereitgestellt. Zweitens geschieht dies in
Produkt- und Prozess-Strukturen, wie sie aus dem industriellen Bereich bekannt
sind.
Wie konstruiert man zukünftige Geschäftsmodelle?
Der
klassische Ansatz, vom Produkt kommend proprietäre Prozessketten aufzubauen,
funktioniert nicht mehr. Man sitzt vielmehr vor einer Fülle von Prozess-Bausteinen,
die man selbst zur Verfügung stellen, aber auch fremd beziehen oder gar nicht
mehr anbieten kann bzw. sollte, weil andere Anbieter oder die Kunden selbst
dies besser können. Die Auswahl aus der Fülle der Bausteine und deren zielgerechte
Kombination wird zur neuen Herausforderung und prägt nachhaltig
überlebensfähige Geschäftsmodelle. Um passgenaue Entscheidungen treffen zu
können, ist ein geeigneter Lösungsansatz erforderlich.
Das Instrument des
„morphologischen Kastens“ bietet diesen Ansatz.
Es wurde ursprünglich von
dem Schweizer Astrophysiker Fritz Zwicky entwickelt, um komplexe
Entscheidungssituationen mit einer Vielzahl von Determinanten in den Griff zu
bekommen [Zwicky 1959, 1989]. Bei ibi research wurde der Ansatz zur
Strukturierung von „Finance 4.0“ weiterentwickelt; dazu wurden die Determinanten
durch Leistungsbausteine ersetzt. Nun lässt sich die Fülle der Leistungsbausteine
so strukturieren, dass man den nötigen Überblick gewinnt, um daraus nachhaltige
Geschäftsmodelle konstruieren zu können (siehe Abbildung).
Relevante Welt der Finanzdienstleister in Baugruppen auf vier Ebenen
In unserem morphologischen Kasten wird die zukünftig
relevante Welt der Finanzdienstleister in
„Baugruppen“ auf vier Ebenen abgebildet: 1. der Ebene der Akteure, 2. der
Ebene der eigentlichen Finanzdienstleistungen, 3. der Ebene der physischen
Objekte und 4. der Ebene der Services für solche Objekte. Jede Ebene bietet ein
bestimmtes Leistungsspektrum oder Baugruppen von Leistungsbausteinen. Jeder
Baustein kann im Extremfall von einem eigenen „Baustein-Spezialisten“
bereitgestellt werden. Anbieter können Bausteine kombinieren, aus engen können weite
Spezialisten werden, bei noch breiterem Angebot sogar Generalisten.
Konkret: Die eigentlichen Finanzdienstleistungen finden sich
auf der 2. Ebene. Hier muss jeder Anbieter überlegen, in welchen
Produktbereichen die eigenen Kernkompetenzen liegen, so dass er diese bzw. sein
Leistungsspektrum auch in Zukunft erfolgreich anbieten kann. Für andere
Produktbereiche wird sich die Frage der Beschaffung oder des vollständigen
Verzichts stellen.
Darunter liegt eine notwendige 1. Ebene, auf der die Akteure
und ihre Identitäten abgebildet werden. Dies beginnt bei der reinen
Authentifizierung, wo zum Beispiel Sparkassen YES heranziehen werden, die
Deutsche Bank wie angekündigt auch Verimi. Das Baustein-Spektrum reicht über
KYC-Informationen bis zum umfassenden Informations- und Dokumenten-Management
für Kunden. Wiederum stellt sich die Frage, was man sinnvollerweise selbst zur
Verfügung stellt – auch weil hier typische Vertrauensdienstleistungen erbracht
werden - und was man von Dritten bezieht.
Nach oben schließt sich die 3. Ebene an: Hier residieren
physische Objekte wie Autos oder Industriemaschinen, im Endausbau vor allem
auch deren vollständigen digitalen Zwillinge. Finanzdienstleister werden
überlegen müssen, ob sie diese Daten – insbesondere kommerzielle Daten mit
Relevanz für die Kreditvergabe oder für Maschinen-Fonds – von Dritten
beschaffen wollen. Eine Alternative wäre, für die kommerziellen Daten im
Digitalen Zwilling selbst eine sichere Bank-Lösung anzubieten und damit die
eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Die 4. Ebene umfasst Services für die physischen Objekte,
von der Wartung bis zur Entsorgung. Auch hier könnte ein Finanzdienstleister
durchaus überlegen, in der Kreditfinanzierung Pakete anzubieten, die z.B. die
Wartung und den Service einschließen, die natürlich von Dritten geleistet wird.
Schließlich führt das Wissen um gute Wartung auch zu höheren Bewertungen der
Maschinen.
Es fehlt noch eine
fünfte Baugruppe: Gebündelte Angebote von Leistungsbausteinen werden den
Kunden zur Verfügung gestellt; das geschieht über die Integrations-, Portal-
oder Marktplatzfunktion. Andere Branchen zeigen, dass diese sehr wohl von den
Produkten auf der linken Seite entkoppelt werden können, siehe Amazon im
Einzelhandel.
Morphologischer Kasten zeigt zukunftsträchtige Geschäftsmodelle
Orientiert man sich am morphologischen Kasten, so kann man gezielt über die eigene
Positionierung nachdenken: Welche Bausteine auf welchen Ebenen sollte man
selbst erstellen? Welche sollte man aus der eigenen Gruppe (z. B. der
Sparkassen oder Volksbanken) beziehen oder in einem Konsortium bereitstellen? Welche
sollte man von Dritten zukaufen – und welche braucht man überhaupt nicht mehr? Das
Geschäftsmodell-Design wandelt sich damit grundlegend von der Gestaltung
proprietärer Prozessketten hin zur Konstruktion von Baustein-Systemen.
Der morphologische Kasten spiegelt damit auch die beiden zukunftsträchtigen
Geschäftsmodelle der Zukunft wider: Man kann Leistungsspezialist sein, der
einen oder mehrere Bausteine auf einer oder mehreren Ebenen anbietet. Oder man
ist Integrator, der Bausteine – in der Regel von mehreren Anbietern –
zielgerecht auf den Kunden hin bündelt. Man kann schließlich beides versuchen,
aber ganz sicher darf man keine mittelmäßigen Produkte hinter der
Vertriebsfassade verstecken oder bessere (fremde) Produkte ausschließen. Auch
Kreuz-Subventionierungen werden ihr Ende finden. Denn solche Lösungen werden
die Kunden nicht (länger) akzeptieren.
Der morphologische Kasten wird hier in wenigen Stichworten
beschrieben. Dahinter steht ein differenziertes Framework. Einen ersten
Eindruck vermittelt ein kurzes Arbeitspapier [Penzel / Peters / Weber 2019].
Literatur
Zwicky, Fritz (1959): Morphologische Forschung. Winterthur, 1959. Neuauflage: Glarus,
Baeschlin, 1989.
Penzel, Hans-Gert; Peters, Anja; Weber, Stephan:
Finance 4.0 (2019): Konstruktion nachhaltiger Geschäftsmodelle mit dem
morphologischen Kasten. Arbeitspapier, ibi research, Regensburg, 2019.
Die Kolumne ist in der BIT 2/2019 erschienen.